Ronya Othmann - Vierundsiebzig
BUCHVORSTELLUNG
Eine wichtige Lektüre. Ein unbequemes Buch.
Erschienen im März 2024 im Suhrkamp Verlag
Ich verwende in meinem Text die Schreibweise Êzîden statt der bekannteren Schreibweise Jesiden, da die Autorin diese verwendet.
Ich möchte Euch zunächst etwas zu den Hintergründen des Inhalts erzählen. Das Êzîdentum ist eine alte monotheistische Religion. Die Êzîden glauben an einen Schöpfergott. Sie besitzen keine heilige Schrift, sondern ihr Glaube wird nur durch mündliche Überlieferungen und Traditionen weitergegeben. Êzîde kann man ausschließlich aufgrund Geburt werden, wenn beide Elternteile Êzîden sind. Sie sind daher auch keine missionierende Religion.
Die Êzîden leben in der Grenzregion von Irak, Türkei und Syrien, also seit Generationen in der Nachbarschaft mit Muslimen. Es gab immer auch Zeiten, in denen sie friedlich und freundschaftlich verbunden miteinander lebten. Aber seit dem frühen 15. Jahrhundert wurden eben auch regelmäßig Massaker und Massenmorde an den Êzîden durch radikale Islamisten durchgeführt.
Am 3. August 2014 begann der 74. dokumentierte Massenmord an den Êzîden, der sich zu einem Genozid entwickeln sollte. Der Titel des Buches bezieht sich also auf diese Zählung in der êzîdischen Geschichtsschreibung. Jetzt nach 10 Jahren ist dieses Ereignis längst wieder aus der allgemeinen, öffentlichen Wahrnehmung verschwunden, doch das Drama dauert an. Es werden immer noch ca. 2.900 in die Sklaverei verschleppte êzîdische Frauen und Kinder vermisst.
In dem 500 Seiten umfassenden Buch lässt uns die Autorin an ihrem zehnjährigen Kampf teilhaben, das Thema in der deutschen Öffentlichkeit sichtbar zu machen.
Auf dem Buch steht Roman, doch vieles daran ist essayistisch, dokumentarisch und journalistisch berichtend. All dies vereint sich in diesem Buch zu einem bedrückenden Zeitdokument aus der Kombination der Reiseberichte der Autorin in die ehemals êzîdischen Gebiete, ihrer Teilnahme an der Gerichtsverhandlung in Deutschland gegen eine deutsche IS-Angehörige und ihrem Versuch, dennoch so etwas wie Alltag hier in Deutschland zu leben.
Es ist diese Gleichzeitigkeit von Unaussprechlichem und Alltäglichem, die den Roman heraushebt aus anderen Medien und mich damit näher herangeholt hat an das Thema, als alle journalistischen Texte oder Videos, die ich bisher dazu gelesen oder gesehen habe.
Othmann ist selbst Tochter eines êzîdischen Vaters und einer deutschen Mutter, im strengen Sinne daher selbst keine Êzîdin. Ihr Vater wurde jedoch nicht von seiner Familie verstoßen und sie selbst und ihre Geschwister waren immer bei den Großeltern willkommen. So fragt sie sich auch selbst immer wieder, ob sie eine Êzîdin ist oder nicht, ohne eine eindeutige Antwort auf diese Frage finden zu können.
Es hat mich sehr beeindruckt und bewegt, wie sie versucht, sich als Journalistin sachlich dem Geschehenen, den Geschichten der Opfer zu nähern und dabei doch Tochter, Enkelin, Cousine bleibt. Sie reist mehrfach in die Heimat ihres Vaters zu ihren Verwandten, zuletzt gemeinsam mit dem Vater und fährt durch zerstörte Dörfer, vorbei an Massengräbern, trifft Opfer der Gräueltaten des IS und berichtet über das, was sie selbst in Videos gesehen und in Augenzeugenberichten gelesen hat.
In ihrem Text lässt Othmann den Leser Anteil nehmen an ihrem Ringen zwischen der deutschen Journalistin und der Êzîdin in ihr, manchmal geradezu um einzelne Sätze, das Unaussprechliche aufzuschreiben, festzuhalten. Einiges davon an Grausamkeit geht an die Grenzen meiner Vorstellungskraft, wozu Menschen fähig sind; lässt mich innehalten, nach Atem ringen. Eine Frage, die Othmann immer wieder umtreibt, ist daher auch, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können und auf die es keine Antwort gibt.
Dann wieder ist sie in Deutschland unterwegs, versucht zu schreiben, zu leben, zu funktionieren. Es ist auch hier ein Ringen darum, wie und ob man in Deutschland Êzîdin sein und bleiben kann. Es geht um Familie, ums Heiraten, um Religion und Traditionen.
Sie dreht und wendet die Sätze, wechselt den Blickwinkel, wiederholt sich. Es bleibt ein bedrückendes Ringen um Darstellung, um Deutung, um Verschriftlichung.
Nichts ist leicht, man spürt den Kraftakt, aber auch die treibende Kraft dahinter; das Müssen in ihrem Schreiben. Die 500 Seiten, die dabei herauskommen, sind einfach viel und hart und bedrückend und unfassbar, eine Zumutung geradezu, das zu lesen, was diesen Menschen in einem uns fernen Landstrich nicht hätte widerfahren dürfen, um nicht aufgeschrieben werden zu müssen. Doch es ist geschehen und deshalb muss es auch erzählt werden.
Ich wünsche diesem Buch viele Leser, aber vor allem geht es darum, dass das Thema mehr öffentliche Aufmerksamkeit verdient hat. Wer jetzt vielleicht nicht zu einem 500 Seiten dicken Buch fassen möchte, dem seien alternativ die Dokumentarfilme »Hawar - meine Reise in den Genozid« und »Jiyan - Die vergessenen Opfer des IS« von der Journalistin und Filmemacherin Düzen Tekkal empfohlen. Tekkal, ebenfalls Êzîdin, spricht im ersten Film von der êzîdischen Religionsgemeinschaft als einem »Volk, das es, wenn die Welt weiter wegsieht, bald nicht mehr geben wird«.
Wer aber die Kraft aufbringen kann, sich an dieses Buch zu wagen, dem möchte ich die Lektüre von »Vierundsiebzig« sehr empfehlen. Lesen lohnt sich!
Eure Jacqueline