Gemeindefahrt nach Auschwitz

Ein jüdischer Mann mit einem Kind auf dem Weg in die Synagoge Auf dem Weg in die Synagoge

Psalm 56,9

»Sammle meine Tränen in einem Krug;
ohne Zweifel, DU zählst sie.«

Ich stehe hier auf der »Judenrampe«. Es ist August und heiß. Die Sonne scheint unbarmherzig! Unbarmherzig? Das richtige Wort für diesen Ort! Ich fühle mich verloren und einsam, obwohl ich nicht allein dort bin. Doch meine Reisegruppe aus der Andreasgemeinde und die anderen Menschen, die diesen Ort besuchten, verlieren sich auf dem großen Gelände!

Dieser Ort Auschwitz II oder Auschwitz Birkenau – Todesstation für über 1,3 Millionen Menschen und Gefängnis für über 400.000 Menschen, geschätzte deportierte Kinder 232.000, 5 Jahre des absoluten Grauens, 5 Jahre Hölle. 1,7 ha groß, Baracke an Baracke, 300 waren es zum Schluss, 600 sollten es einmal werden. Bis zu 2.000 Menschen litten in einer Baracke. Die Zahlen überfordern mich. Die Größe schockiert mich. Meine Vorstellungskraft versagt. Ich laufe mit den anderen über das riesige Gelände in Richtung Gaskammern und Verbrennungsöfen. Hier ist die Unbarmherzigkeit besonders zu spüren zwischen dem kleinen Wäldchen im Hintergrund und den gesprengten Häusern, indem so viele Menschen ihre letzten Atemzüge taten.

Langsam begreife ich mehr, als unser polnischer Reiseführer Jazek von einzelnen Schicksalen erzählt. In den Tagen nach der Reise beschäftigte ich mich viel mit dem Schicksal von Pater Maximilian Kolbe, der in Auschwitz I ums Leben kam, als er für einen Mithäftling in die Hungerzelle ging. Ich ahnte, auch in der tiefsten Dunkelheit darf Barmherzigkeit existieren. In Auschwitz gab es »Monster« und »Engel«. Was wäre ich gewesen, wenn ich damals schon gelebt hätte? Durch die Erfahrungen in der letzten Zeit, wo auch die dunkleren Seiten meines Herzens sichtbarer und mir bewusster wurden, begreife ich: Es ist reine Gnade Gottes, wenn man vor der Sünde der Unbarmherzigkeit verschont bleibt.

Vor unserem Besuch in beiden Lagern streiften wir mit unserem polnischen Reiseführer durch die Stadt. Er zeigte uns die früheren Orte des jüdischen Lebens (z. B. wo die alte Synagoge stand). Bemerkenswert war, dass jeder vierte Bürger von Oswiecim jüdische Wurzeln hatte. Wir bewunderten den natürlichen Fluss Sola, der die Schönheit von Gottes Schöpfung zeigte. Danach fuhren wir aus dem Schatten der Stadt hinaus ins 3 km entfernte Stammlager II Birkenau und damit in die unbarmherzige Sonne, an die »Judenrampe«. Wir liefen weiter durchs Lager an unzähligen Baracken oder deren Reste vorbei bis zu den gesprengten Krematorien und Gaskammern.

Mit dem Shuttle-Bus ging es ins Stammlager I. Nach der Ankunft und den am Eingang stattgefundenen Sicherheitskontrollen befand man sich in einem Tunnel, der letztendlich ins Lager führt. Aus verschiedenen Lautsprechern erklangen die Namen der Opfer, als wir durch diesen Tunnel gingen. Es war bedrückend, denn die große Masse der Opfer veränderte sich nun zu Menschen mit Einzelschicksalen. Ich wollte mir ein paar Namen merken, doch es gelang mir nicht, so als wollte dieses Grauen weder in mein Herz noch in meinen Kopf.

Nach der guten behutsamen Führung von Jazek durch die verschiedenen Häuser von Ausschwitz I (hier waren Sammlungen von verschiedenen Gegenständen zu sehen, die Folter- und Todeszellen, Galgen, Schlafräume, Waschräume...) und der einzig erhaltenen Gaskammer mit Krematorium kamen wir zum Block 17. Dieses Haus beinhaltete eine Ausstellung, die dem jüdischen Volk gewidmet war. Sehr eindrücklich mit kleinen Zeichnungen von Kindern an den Wänden wird man in einen Raum mit übergroßen Büchern geführt, wo alle bekannten Namen der Opfer gesammelt sind. Millionen Namen – Jeder Mensch von Gott geliebt!

Ohnmächtig, traurig, betroffen, fassungslos und erschüttert fuhren wir an diesem Tag ins Quartier zurück und wussten, dass uns dieser Besuch noch lange beschäftigen würde. Manche innere Überforderung wurde bei einem gemeinsamen Sabbatabend aufgefangen.

Am nächsten Tag war Krakau der Schwerpunkt der Reise. Wir sahen uns die älteste Synagoge, die inzwischen ein Museum ist (sehr interessant) an, liefen durch das alte jüdische Viertel, dann ein Stück noch weiter bis zum ehemaligen Ghetto und letztendlich bis zur Weichsel, wo wir eine Pause einlegten und Zeit zum Reden hatten. Es war sehr angenehm, in Krakau lebendiges jüdisches Leben zu sehen und zu spüren. Nach dem Besuch eines jüdischen Museums genossen wir noch die gute, teilweise jüdische Küche eines Restaurants und die Livemusik vor Ort.

Der letzte Tag, mit schon gepackten Koffern, führte uns zu einer Ausstellung ganz in der Nähe des Lagers Birkenau mit dem Namen: »Fountain of Tears« (Quellen der Tränen). Für mich war es die intensivste Erfahrung dieser Reise. Der kanadische Künstler Rick Wienecke nähert sich der Frage nach der Beziehung zwischen Jesus und seinen im Holocaust leidenden Volk (exemplarisch wurde ein Auschwitz überlebender Häftling genommen). Während ich um das Begreifen und Verstehen ringe, hat der Künstler ein sensibles Kunstwerk geschaffen, dass einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen hat.

Durch den Gang voller »Fragen«, die wir alle haben und welche oft unbeantwortet bleiben, trifft man durch die Dunkelheit auf etwas mehr Licht und sieht eine Figur, welche Jesus in Gethsemane darstellt. Man erkennt deutlich seinen Kampf und den vollen Leidensbecher vor der Kreuzigung.

Danach kommt man in einen größeren Saal, in der sich das eigentliche Kunstwerk befindet: Eine massive Wand, die in sieben Abschnitten unterteilt ist. Jeder Bereich hat eines der sieben letzten Worte Jesu zum Thema. Man sieht den Gekreuzigten in unterschiedlicher Weise an der Wand dargestellt, ihm gegenüber ein KZ-Häftling. Die beiden scheinen miteinander in einem Dialog zu sein und verkörpern durch Haltung und Gesichtszüge das jeweilige Kreuzeswort. Zwischen diesen Abschnitten laufen Wassertropfen (Tränen) herunter.

Die letzte Figur im nächsten Raum stellt die Auferstehung und den Sieg über das Leid dar (der Kelch ist leer). Dabei umarmt Jesus den Holocaust-Überlebenden fest, welcher die Nähe Jesu genießt. Diese Skulptur ist für mich der positive Höhepunkt und ich begriff wenigstens ansatzweise die Liebe und die tiefe, niemals zu trennende Verbindung von Jesus zu seinem Volk, aber auch zu uns, zu mir.

In dieser Ausstellung ist nicht zu sehen, dass Gott sein Volk im Holocaust »vergessen« hätte, sondern wie Gott selbst in Jesus mitleidet, der Schmerz ihn auch zerreißt, er verzweifelt und niedergeschlagen ist, große Qualen erduldet und schließlich den Tod erleidet. – Doch Gottes Liebe siegt: Erlösung vom ganzen Grauen! Auferstehung! Leben! In der Auferstehungsszene ist die Sehnsucht zu sehen, die auch ich im Herzen spüre, die Nähe und Barmherzigkeit zu erleben, die jedes Leiden überwindet.

»Er wird alle ihre Tränen abwischen, und es wird keinen Tod und keine Trauer und kein Weinen und keinen Schmerz mehr geben. Denn was früher war, ist vergangen.« (Offenbarung 21,4)

Ich hätte gerne noch mehr Zeit bei diesem Kunstwerk verbracht, denn ich spürte Gottes Reden durch diese Skulpturen. Trotzdem bin ich sehr dankbar, es zum Schluss gesehen zu haben, denn es gab mir Hoffnung und tröstet mich auch jetzt noch, wenn ich über dieses ganze Kapitel des Holocaust nachdenke.

Für diese intensiven Tage bin ich sehr dankbar. Ich weiß, dass sie noch lange bei mir nachklingen werden und ich erst nach und nach verstehen werde, was ich gesehen und gefühlt habe. Eins weiß ich: Es hat mein Herz verändert. Keiner verlässt Auschwitz und »Fountain of Tears« so, wie er gekommen ist.

Ute Benndorf